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Laudatio von Egon A. Stumpf

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Karl Grunwald: Serendipity

Eine Kunstausstellung, die sich dem Zufall zu Füßen wirft und der kausalen Logik den Rücken kehrt, und dabei ganz nebenbei der Freiheit des Denkens oder besser noch des Tuns ein ständig mit Überraschungen gespicktes kleines Denkmal baut, fordert den aufgeschlossenen Betrachter auf, aus seinem gut eingerichteten Schneckenhaus herauszutreten und in die Wildnis des Findens und nicht des Suchens einzutauchen. Dada lebt und der Zufall ist unendlich und eine Postkarte ist ein authentisches Kunstwerk (Picasso).

Öffnungszeiten: 18.10. - 08.11.2020, sonn- und feiertags von 11-17 Uhr

                        sowie nach telef. Vereinbarung

Führungen: So 25.10. und 08.11.2020, jeweils 11 Uhr

In unseren Räumen gelten die aktuellen Hygiene- und Abstandsregeln.

Die Laudatio zur Ausstellung finden Sie hier.

Ein Zauberwort dieser Titel, was er wohl bedeutet? Überhaupt ist die Frage nach der Bedeutung dieser Kunst  nicht von Bedeutung. Bedeutend ist vor allem, dass jede Form von Überhäuptern in die Bedeutungslosigkeit versenkt wird. Kunst ist bedeutend – wird versenkt! „Der Fehler fängt schon an, wenn einer sich anschickt Keilrahmen und Leinwand zu kaufen. 1.11.1985;“ Joseph Beuys. Ein Satz, den russische revolutionäre Künstler 1919 ausgesprochen hatten und der gar nicht oft genug ausgesprochen werden kann – ein Manifest - wird versenkt! Ab mit Euch, eurem Anhang, eurem Publikum, euren Eitelkeiten in die Versenkung, in den Untergrund, in die tiefsten Tiefen der menschlichen Seele – wird versenkt! Uns bleibt NICHTs –  als versenkt.

In dieser Notlage darf ich Ihnen den Künstler Karl Grunwald vorstellen. Dieser Künstler ruft: Dada lebt! Und er holt mit seinem positiven Ansatz alles Mögliche aus der Versenkung alter Bücher oder Flohmärkte und dadaiert diese mit neuem Kunstglanz in unser heutiges Sein. Dada scheint damit keine Findung unserer Zeit zu sein, sondern stellt die Beziehungen zum Vergangenen direkt her und nicht auf der aseptischen Ebene der Ideen. Alte Meister, abgebildet in alten Büchern, übermalt Karl Grunwald aus Haßfurt, schneidet Teile aus und montiert neu, der unmittelbarste Bezug zu unseren kulturellen Wurzeln, der vorstellbar ist, und gleichzeitig die modernste Bildung, zu der wir heute in der Lage sind. Der Künstler wird zum Hasardeur und zum Conservadeur. Damit gebe ich den wagemutigen Betrachtern den ersten Code zur Dechiffrierung des Werkes des Künstlers Karl Grunwald an die Hand. Es ist Ihre Aufgabe herauszufinden, welche Zufälligkeiten diese Arbeiten für Sie an die Oberfläche ihres Lustempfindens gespült haben. Stellt sich Ratlosigkeit ein, dann ist Ihre Aufnahmepotenz gestört oder bewegt sich immer noch in überkommenen Regeln und Manifesten. Werfen Sie über Bord, was die Arche Nova auf ihrer Reise ins Ungewisse auf sichere Bahnen lenken will. Und bedenken Sie: Ihr Zufall ist nicht mein Zufall und schon gar nicht der von Jedermann.

Die Lust am Absurden könnte darin gründen, dass man weiß, dass diese Welt auch eine ganz andere Entwicklung hätte nehmen können. Die Gesetze der Physik und Chemie z.B. schließen den Zufall nicht aus. Eine kausale Kette der Ereignisse ist eine Interpretation allen Werdens im Nachhinein und gibt selbst bei bester Kenntnis des Geschehenen keinen einzigen Hinweis auf das, was kommt. Der beste Beweis ist die Wettervorhersage, die nicht daran krankt, dass man immer noch nicht genug weiß und dass immer noch keine ausreichende Rechenformel  entwickelt wurde, sondern daran, dass die Wolken Lust haben zu tun und zu lassen, was ihnen gefällt, trotz ihres tonnenschweren Gewichtes. Dagegen sind die Gedanken leicht und frei, völlig gewichtslos oder auch ungewichtig, vielleicht auch unwichtig, solange sie nicht bereit sind niederzuschlagen wie eine Wolke. Stellen Sie sich vor, Sie nähmen die Buchstaben eines Buches und stecken alle in einen riesigen Würfelbecher, schütteln sie kräftig durcheinander und schütten sie endlich wieder aufs Papier. Vielleicht würde aus einem politischen Manifest eine Liebesgeschichte, was zugegeben recht unwahrscheinlich klingt, aber doch eine große Überraschung wäre, weil unmöglicher als ein Lottogewinn. Damit habe ich Ihnen einen zweiten Hinweis zur Decodierung des Werkes von Karl Grunwald an die Hand gegeben.

Glauben Sie an ein absolutes Ende dieser Welt, ihres Lebens, des Alls, der Auflösung aller Materie oder können Sie sich vorstellen, dass unserer Welt ein strukturelles und permanentes Ende ebenso innewohnt wie ein struktureller permanenter Neubeginn? Dass jede Handlung, die geschieht, durch uns oder durch anderes Sein eine Veränderung bewirkt, die irreversibel ist und gleichzeitig unvorhersehbar? Vielleicht ist es gar nicht der Sinn unseres Dasein von demselben erlöst zu werden, sondern darin unter zu gehen, sich darin aufzulösen und für neue Gestaltung bereit und verfügbar zu sein! Ein Ende ist nicht die Pforte zu einer rhythmischen Wiederholung des immer Gleichen. Man sollte in dem Wort Veränderung das ä durch ein e ersetzen, dann wäre es verstehlicher. Ein wandernder Punkt auf der Fläche ist ein Strich, hat uns Paul Klee gelehrt. Was ist dann ein hüpfender Punkt? Oder ein sterbender Punkt? Oder ein Punkt, der mit dem Fahrrad fährt? Sind Sie schon einmal mit dem Mikroskop auf einer Reise ins Innere der Welt gewesen und haben erlebt, wie sich die Oberfläche auflöst und ständig neue Welten auftauchen und sich allmählich unsere Gewissheiten auflösen, weil wir nicht mehr oberflächlich sein können? Ein Tisch ist ein Tisch ist ein Tisch verdammt noch mal. Und bevor er wurde zu einem Tisch, steckte er in einem Baum oder einem Stein oder einem Samenkorn oder einer Regenwolke! Da wird uns allmählich klar, dass in dieser ganzen Welt überall Tische stecken, die im Sinne Michelangelos befreit werden wollen. Es könnten auch Stühle sein oder Fische oder Fliegen oder Mauerblümchen. Aber es sind nun mal Tische, basta! Das Absurde ist nicht nur wirklich denkbar, sondern wirklich und denkbar. Das Fantastische an der Kunst ist, dass man dort wirklich Tische befreien kann. Ein dritter Hinweis zum Verständnis des Werkes von Karl Grunwald.

Chaos und Ordnung oder Schönheit und Erschrecken. „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören…“, Rainer Maria Rilke. Das Haupt der Medusa ist anziehend und zerstörend gleichzeitig. Die Schönheiten unserer Bilderflutenwelt sind anziehend und zerstören unsere Ruhe und verrücken unsere Lebensmitte. Schönheit ist ein Spiegel, der uns unsere Hässlichkeit zeigt. Dabei gibt es weder Schönheit noch Hässlichkeit, wir haben beides erfunden, uns ausgedacht. Die angebetete Schönheit öffnet den Blick in die Qualen der Hölle. Chaos und Ordnung, Schönheit und Schrecken erscheinen als Gegensätze, weil wir gerne paarweise denken. Denken im Dreieck, denken im Vieleck, denken in der chaotischen Form schafft dem Neugierigen neue Welten. Neugierde hilft in der Kunstbetrachtung weiter.

„Die Lust am Unseriösen“ ist der Titel eines Buches von Thomas Becker aus dem Fundus Verlag. Gönnen Sie mir ein Zitat aus den 299 Seiten dieses Feuerwerks neuer Ideen zur Kunstbetrachtung. „So hielt Baudelaire in der von ihm entwickelten Kunstprophetie fest, dass ihm am Theater stets der Kronleuchter mehr interessiert habe als jede Aufführung selbst, was analog zur Praxis der späteren ready mades wohl kaum dem Geschmack der populären Kultur entsprochen haben dürfte.“ Ist etwa ein vertrockneter Buffo Buffo in seiner intimen Zweisamkeit mit einem Fruchtgummifrosch nicht ebenso faszinierend wie eine Mona Lisa in einer pornografischen Bilderweiterung? Eingedoste Künstlerscheiße ist so erhaben wie aufgereihte Hasenköttel, entweder im Original oder in einer Hommage an herman de vries. Aber nur als wertfreies Tun und nur ohne hierarchisch ordnende Herrschaftsansprüche können das Unseriöse und das Triviale einen Platz als optisch wertvolle Reize erobern. Die Lust am Zitieren verführt mich zu einem weiteren Zitat, diesmal aus dem Büchlein von Hans Ulrich Reck „Spiel  Form  Künste“: „Der für die Kunst des 20ten Jahrhunderts permanent zunehmende Reiz des Aleatorischen und der damit verbundene gesteigerte atmosphärische Charme des Improvisatorischen beruhen auf einer momentanen, zeittypischen, zuweilen auch epochalen Aufwertung der Nebensächlichkeiten, …“ Vielleicht ist ja der Diener im Hause der Julia ebenso schicksalsbeladen wie sie und ihr Romeo, was nur zu erfahren wäre, wenn es literarisch beleuchtet werden würde. Womit die Bedeutung des sog. Unseriösen endlich aus dem Verließ der Obrigkeit befreit ist.

Zum Schluss aus dem Tagebuch von Withold Gombrovicz: „Sie: Mensch! Du hast kein Gespür für Malerei! Keine Ahnung! Kein Verständnis! Du begreifst das nicht! Ich: Seht mal diese drei Streichhölzer, die ich auf den Sand lege. Stellt Euch vor, in einer Gruppe von Menschen entsteht ein erbitterter Wettstreit darum, wie man diese drei Streichhölzer so anordnen kann, dass sie in künstlerischer Hinsicht zu einer möglichst großen Offenbarung werden. … Lohnt sich das? … Und ich frage weiter: Wieso überhaupt Offenbarung suchen in der Kunst?!“

Ja, wieso eigentlich?

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